EGMONT in Bagdad 2021

Stimulating the Imagination
Reflections on the stage design of „Egmont“


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Theater ist eine Kunst des Raumes. Obwohl dieser Aspekt eigentlich selbstverständlich ist, stand er nicht immer an erster Stelle in der Wahrnehmung. Ein entscheidender Moment im Wandlungspro-zess dieser Wahrnehmung vollzog sich in der europäischen Renaissance, insbesondere in Italien, im 16. Jahrhundert. Es war der Zeitpunkt, in welchem das Theater, dass überwiegen in Freien stattfand, beispielsweise auf Jahrmärkten, in einen Saal verlagert wurde. Das erforderte neue technische Mittel, die im Zuge einer beachtlichen technischen Entwicklung überhaupt erst möglich wurde und auch mit einer Veränderung des Weltbildes der Menschen einherging. Für das Theater im Saal mussten Kulissen gebaut und ein Beleuchtungssystem entwickelt werden. Bis dahin diente für die Aufführungen im Freien das Tageslicht der Beleuchtung , während die Architektur der Umgebung oder ein einfaches, hölzernes Gestell mit ein paar Brettern als Bühne und einen Vorhang die Kulisse war. Selbst das Theater der Shakespeare-Zeit spielte sich im Freien ab, wenngleich schon überdachte Theaterbauten geschaffen wurden.


Die Produktion: Zweieinhalb Jahre Vorbereitung. Ein Vierer-Team: zwei  Iraker*innen, zwei Deutsche. Ein mutiger Leiter des Goethe-Instituts Irak. Eine Woche Vorproben inmitten der Revolution. Pandemie. Wechsel der Regierung. Eine Entführung. Wechsel der Schauspieler. Pandemie. Verlegung vom Winter in den Frühsommer. 45 Grad Hitze. Lärm der Aircondition. Vierzehn Tage szenische Proben im Nationaltheater Bagdad. Erpressungsversuche. Ein geringes Budget für das Bühnenbild. Wasser im Orchestergraben. Zwei Beleuchter und zwei Techniker vom Nationaltheater Bagdad. Eine Nähmaschine vom Beit Tarkib. Eine Woche Proben mit dem Orchester. Unsere vier Bodyguards, die zu Beethoven-Experten wurden. Brechend volles Haus. Eine ganz besondere Erfahrung. Ein tolles Team! Großer Dank an alle Mitwirkenden und alle, die das Projekt ermöglicht haben! Mumtaaz! Shukran!

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Die entscheidende Neuerung aber war, dass der Mensch sich mit Hilfe des Theaters im Innenraum eine eigene Welt schuf, die er nach Belieben und nach dem Maß seiner technischen und künstleri-schen Fähigkeiten gestalten konnte. Und gemäß dieses anthropozentrischen Weltbildes, dessen Entwicklung mit zahlreichen Unruhen und Umwälzungen einherging entwickelten sich die technischen Möglichkeiten, die im Wesentlichen auch heute noch existieren. In dieser Zeit, in der Mitte des 16. Jahrhundert, spielt auch der historische „Egmont“.

Das Theater der Renaissance arbeitete vor allem auch mit den Neuerungen der perspektivischen Darstellung, die zunächst die Malerei revolutionierte und nun auf den dreidimensionalen Raum übertragen wurde. Die Theaterkünstler und Architekten der Renaissance bemühten sich um optische Illusion in ihrem Versuch, die Wirklichkeit und die Natur zu imitieren. Dies macht heute der Film, der mittlerweile selbst in seiner Entwicklung von einer eher abstrakten Imitation in seinen Anfängen zur realistischen Abbildung mutiert ist. Dies jedoch in der Zweidimensionalität.


Heute, wo wir mit denkbar großen einer Bilderflut konfrontiert sind - in den social media, im Fernse-hen, im Kino - kann das Theater aber auch ein Ort der Reflexion sein, der sich einem totalen Realismus verweigert und diesen hinterfragt. Wobei sich auch hier ein Widerspruch auftut; denn der Realismus der Darstellung in den Medien ist in Wahrheit zweidimensional: eben nicht räumlich, sondern vermittelt nur eine Illusion der Räumlichkeit.

Das Theater als Kunst des Raumes hat sich in seinen technischen Möglichkeiten erneuert und das Medium des Films mit aufgenommen, so dass es in der Lage ist, einen ästhetischen Dialog zwischen den der räumlichen Illusion des Films und der tatsächlichen Räumlichkeit der Bühne führen kann. Ebenso hat es die Möglichkeit, einen Dialog zwischen der Abstraktion szenischer Mittel und dem Realismus des Films zu führen. Auf der Bühne ist Simultaneität möglich.

In der Entwicklung meines Bühnenkonzepts für „Egmont“ habe ich teilweise auf die Technik der Renaissancebühne zurückgegriffen, die uns in zahlreichen Schriften überliefert ist. Dennoch verzichte ich auf Imitation und Realismus in den Bühnenelementen, führe aber andererseits diesen ästhetischen Dialog zwischen Abstraktion und Realismus mit Filmsegmenten, die in einzelnen Szenen auf einem „screen“ eingeblendet werden.

Wenn wir im „Egmont“ im dreidimensionalen Bühnenraum mit einem abstrahierten Bühnenbild arbeiten, das räumliche Gegebenheiten, wie eine Straße, ein Zimmer oder einen Marktplatz nur andeutet, so stimulieren wir die Imagination der Zuschauerin und des Zuschauers. Durch die Verweigerung des eines vermeintlich vollkommenen Realismus wird die Bühne zu einem Raum zum Nachdenken und Reflektieren dessen, was sich vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer abspielt. Gleichzeitig teilen die Zuschauerinnen und Zuschauer das Ereignis mit anderen, die mit ihnen im Theatersaal sitzen und sind zudem Teil eines Ereignisses, das sich so nie wiederholen wird. Denn jede Aufführung ist einmalig und immer wieder neu.


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Astrid Vehstedt
4/2021



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